Trommen in der Altenpflege
Ricarda Raabe trommelt seit über 30 Jahren und bietet Trommelkreise in der Altenpflege an. Im Interview erklärt sie, welche positive Wirkung das Trommeln hat, insbesondere auf Ältere und Menschen mit Demenz.

Wie sind Sie dazu gekommen, Trommeln in der Altenpflege anzubieten?

Ich bin Sozialarbeiterin und Altenpflegerin. Während meines Studiums habe ich viel mit Perkussion (Anmerkung der Redaktion: Oberbegriff für das Spiel aller Schlaginstrumente) gemacht. 2007 entdeckte ich die Drum Circle Methode (Anmerkung der Redaktion: Trommelkreise) und baute daraufhin in fünf Berliner Bezirken einen Drum Circle 50+ auf. Wir traten auf Sommerfesten, Stadtteilfesten und anderen Veranstaltungen auf, unter anderem in der Villa Albrecht, einem Seniorenzentrum in Berlin-Tempelhof. Nach unserem Auftritt fragte mich die damalige Einrichtungsleiterin, ob wir das nicht fest in der Villa Albrecht etablieren könnten. Das Konzept war damals neu. Anfang 2013 konnten wir das Projekt mit 25 Teilnehmenden starten und bis heute fortführen.
Wie sah diese Zeit aus?
Anfangs fand der Drum Circle alle zwei Wochen statt, später dreimal in der Woche. Ich schulte die Betreuungskräfte, damit sie das Angebot selber anbieten konnten. Es war eine unheimlich tolle Zeit. Wir traten bei verschiedenen Veranstaltungen auf, wie zur Fachtagung des Nachbarschaftsheim Schöneberg zum Thema Demenz und Kultur in der Ufa-Fabrik. Die Teilnehmenden der Villa Albrecht saßen auf der Bühne und weitere Instrumente wurden an das Publikum verteilt. Gemeinsam rockten wir den großen Saal. Beim Bürgerfest des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Schloss Bellevue spielten wir auf einer großen Bühne. Dann kam die Corona-Zeit. Zum Glück konnten die Betreuungskräfte ohne mich weitermachen. Ab und zu bin ich noch da. Anfang 2024 habe ich ein wunderbares neues Projekt gestartet in der Tagespflege MANA in Lankwitz. Dort bin ich einmal im Monat.
Können an dem Projekt nur Bewohnende aus den Seniorenzentren teilnehmen?
Nein, meine Angebote sind offen für alle: Angehörige, Begleit- und Betreuungskräfte, Ehrenamtliche, Menschen aus dem Kiez oder die zu Hause betreut werden. Alle Generationen sind herzlich willkommen. Wir nennen es „Trommeln für Toleranz – Drum Circle für Menschen mit und ohne Demenz“. Konrad Hummel forderte in den 80er Jahren: „Öffnet die Altersheime“. Das ist auch mein Ansatz.
Warum Trommeln in der Alterspflege?
Das Besondere ist die Drum Circle Methode, die ich anwende. Ich hole die Menschen dort ab, wo sie sind. Sie brauchen keine musikalischen Vorkenntnisse und können sich das Instrument aussuchen, das sie spielen möchten. Der Drum Circle schafft einen geschützten Raum, in dem sich die Teilnehmenden sicher und gesehen fühlen. Sie können sich bewegen und ausdrücken, wie sie möchten. Sie spüren ihren Körper. Trommeln weckt Lebensfreude. Wer nicht trommeln möchte, kann einfach dabei sein und jederzeit gehen.
Warum eignet sich Trommeln besonders für Menschen mit Demenz?
Viele Menschen mit Demenz können sich sprachlich nicht mehr ausdrücken. Es fällt ihnen oft schwer, Sätze zu bilden. Doch mit Trommeln oder Perkussionsinstrumenten gelingt es ihnen oft, sich mitzuteilen. Trommeln ist nonverbale Kommunikation, die keiner Erklärung bedarf. Ich leite mit Körpersprache, die von allen verstanden wird. Außerdem bewegen sich Menschen mit Demenz gerne und singen. Bei den Drum Circles kommt das von den Menschen selbst. Wir müssen sie nicht dazu motivieren.
Welche positiven Effekte hat das Trommeln?
Laut Studien baut Trommeln Aggressionen und Stress ab, fördert Spontanität und Selbstsicherheit. Es stärkt das Immunsystem, verbessert die Koordination und wirkt sich positiv auf die Verbindungen zwischen linker und rechter Gehirnhälfte aus. Es hilft bei depressiven Episoden und steigert in der Gruppe das subjektive Wohlbefinden. Außerdem ist es eine gute Sturzprophylaxe, da es den Gleichgewichtssinn fördert. Diese Effekte sind auch für Menschen mit Demenz sehr gut.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie von den Teilnehmenden?
Das Trommeln und die Musik gehen direkt ins limbische System, das Zentrum der Emotionen. Die Menschen lächeln, es entsteht Lebensfreude. Was mich sehr beeindruckt, ist, wenn der Drum Circle zu Ende ist und es ganz still ist, und die Teilnehmenden tanzend aufstehen. Die Betreuungskräfte berichten, dass die gute Stimmung den ganzen Tag anhält. Viele Teilnehmende kommen immer wieder – in der Villa Albrecht gibt es das Angebot schon seit über 12 Jahren. Und das funktioniert, ohne dass es immer etwas Neues sein muss.
Gibt es eine besondere Geschichte, die Ihnen in Erinnerung geblieben ist?
In einer Runde konnte ich einer Teilnehmerin, einer 102-jährigen Dame mit schwerer Demenz, ihr Instrument nicht zuordnen. Also habe ich ihr jedes Instrument gezeigt und geschaut, ob sie ihr Instrument erkennt. Erst als ich ihr die rote Holzrassel hinhielt, strahlte sie. Das fand ich total spannend, denn diese Frau war so stark dement, dass sie eigentlich kein Kurzzeitgedächtnis mehr hatte. Ein Neurologe erklärte mir, dass diese Frau wahrscheinlich einmal in einem Drum Circle war und dieses Erlebnis mit der roten Rassel sie emotional so tief berührt hat, dass sie es gespeichert hat. Das sind tolle nonverbale Feedbacks.
Wie sieht eine typische Trommelstunde aus?
Es gibt einen Kreis mit 25 Stühlen und einem Ein- und Ausgang. Die Instrumente sind auf allen Stühlen verteilt und die Leute suchen sich einen Platz mit dem Instrument, das sie spielen möchten aus, wie zum Beispiel kleine, hohe, tiefe Trommeln, Schüttelinstrumente, Rahmentrommeln, Basstrommeln, Holzklötze. Dann gehe ich in die Kreismitte und zähle: eins, zwei, drei jetzt geht’s los und alle fangen an zu spielen. Ich leite mit meiner Körpersprache und gebe Impulse. So navigiere ich vom Chaos zum Groove. Das Chaos ist nur von kurzer Dauer. Sie sehen mich lächeln und wissen, sie sind richtig. Es gibt Zeichen für lauter und leiser. So kann ich mit ihnen kommunizieren, ohne zu sprechen. Auch Menschen mit Demenz verstehen diese körpersprachlichen Signale sehr gut. Dann lasse ich das eine Weile grooven. Je nach Stimmung der Teilnehmenden. Manche fangen an zu singen. So gestalte ich eine Stunde.
Gibt es Herausforderungen bei der Durchführung von Trommelkreisen in Pflegeheimen?
Als ich anfing, hatte ich viele Befürchtungen. Es hieß: Alte Menschen trommeln nicht, alten Menschen ist das zu laut. Doch das hat sich nicht bewahrheitet. Die größte Herausforderung ist heute manchmal Einrichtungsleitungen zu überzeugen. Es braucht nicht nur aufgeschlossene Betreuungskräfte, sondern auch neugierige, innovative Leitungen. Es hat sich schon viel getan, aber ich wünsche mir mehr Mut zum Lärm, mehr Mut zum Trommeln.
Wie geht es für Sie in Zukunft weiter?
Neben den Drum Circles gebe ich Fortbildungen und habe einen Lehrauftrag für Musikgeragogik an der Fachhochschule Münster. Musikgeragogik ist die Wissenschaft von der Musik für ältere Menschen. Ich habe angefangen eigene Fortbildungen zu kreieren, meine Lehraufträge weiter auszubauen und möchte mein erworbenes Wissen weitergeben. Bundesweit gebe ich viele Drum Circles und Fortbildungen. Für Berlin und Brandenburg wünsche ich mir wieder mehr zu Trommeln.
Das Interview führte Lea Hanke.