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Digitaler Detox für die Generation Alpha

Von: Dörte Gastmann

Am 26. Juni veranstaltete die Landeskoordination Rehabilitation und Teilhabe - Kinder und Jugendliche, in Trägerschaft des VdK Berlin-Brandenburg, einen Fachtag zum Thema Bedingungen des Lernens und der persönlichen Entwicklung 0 bis 7-jähriger Kinder im digitalen Zeitalter. Das Interesse war groß, denn der zunehmende Medienkonsum von Kleinkindern und Kindern nimmt einen immer größeren Stellenwert in den Beratungssituationen des Heilpädagogischen Fachdienstes und der Kinder- und Jugendambulanzen ein. 

AUf dem Foto sieht man den Fachtag der Kidt. Eine Menschengruppe sitzt und vorne am Pult redet Frau Hohmann.
Einen ganzen Tag lang verfolgten die Fachexpert*innen die Vorträge und erarbeiteten in Workshops Handlungsempfehlungen für ihren Beratungsalltag. © VdK Berlin-Brandenburg

Bankgeschäfte, Einkaufen, Kommunikation mit Freunden, E-Mails, Spiel und Unterhaltung, Informationsbeschaffung – digitale Angebote durchdringen zunehmend unsere analogen Lebenswelten. Kein Wunder, dass schon Kleinkinder wie selbstverständlich über das Smartphone ihrer Eltern wischen. Spätestens seit Corona sind Tablets und Smartphones aus heimischen Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken. Die Generation Alpha, das sind Grundschulkinder, Kleinkinder, Babys und die Kinder, die im nächsten Jahr auf die Welt kommen, wächst so digital auf wie keine andere Generation zuvor. Sie sind Teil sozialer Netzwerke, noch bevor sie selbst die Geräte bedienen können.

Digitaler Fluch oder Segen?

Doch was macht die zunehmende Digitalisierung mit unseren Kindern? Ist die Nutzung digitaler Angebote im Kleinkindalter eher Fluch oder Segen? Dieser Frage gingen die Teilnehmenden des Fachtags Ende Juni in Berlin nach. Mehr als 60 Fachexpert*innen, darunter Ärzt*innen, Psycholog*innen, Heil- und Sozialpädagog*innen sowie Mitarbeitende des Heilpädagogischen Fachdienstes, ein Beratungsangebot für Kinder bis zum Schuleintritt, waren gekommen, um sich über die aktuellsten Entwicklungen und Zahlen auszutauschen und in gemeinsamen Workshops Handlungsempfehlungen für Beratungssituationen zu erarbeiten.

Portrait Sabine Salaske
Sabine Salaske arbeitet seit fünf Jahren in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie im Bereich frühkindliche Bildung und pflegt seit jeher einen engen Austausch mit den verschiedenen Trägern. © VdK Berlin-Brandenburg

Medienkonsum steigt

Studien belegen: Der Medienkonsum von Kindern ist seit der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. In Deutschland hatte im Jahr 2023 jedes fünfte Kleinkind Zugang zu einem Tablet – eine Steigerung von 50 Prozent im Vergleich zu 2020. Zu dieser Erkenntnis kommt die aktuelle miniKim-Studie zum Medienumgang von Zwei- bis Fünfjährigen. 

„Die Corona-Pandemie erforderte Kontakteinschränkungen, Homeoffice bei gleichzeitiger Kinderbetreuung sowie Sicherung der schulischen Aufgabenerfüllung in zum Teil beengten Wohnverhältnissen. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung war diesen hohen Belastungen ausgesetzt. Der vielfältige Einsatz digitaler Geräte wirkte da als Unterstützung. 

Mit Laptops konnte die Schulpflicht erfüllt werden, Kinder verfolgten vor riesigen Bildschirmen geeignete und ungeeignete Sendungen, spielten mit dem Smartphone der Eltern oder dem eigenen. Mitunter wurden die Nutzungszeiträume nicht kontrolliert. Eltern verschafften sich so scheinbar eine Atempause“, so Sabine Salaske von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in ihrer Eröffnungsrede.  

Erschreckende Studienlage

Fundierte Belege für diese Beobachtungen folgten in den anschließenden Fachvorträgen. Dr. Katrin Klöpper, leitende Ärztin der Kinder- und Jugendambulanz der Ki.D.T. gGmbH, machte deutlich, dass Kinder durch Berührung und Soziale Interaktion mit ihren Bezugspersonen lernen. Fehlen diese, kommt es teils zu erheblichen Entwicklungsstörungen, die im Alltag der Kinder- und Jugendambulanzen täglich zu sehen sind. 

Dr. Frank W. Paulus leitet eine Spezialambulanz für psychische Störungen im Säuglings- und Kleinkindalter sowie eine weitere für digital süchtige Jugendliche am Universitätsklinikum des Saarlandes. Seit Jahren beschäftigt er sich mit dem Medienkonsum im Vorschulalter und dessen Auswirkungen auf das Bindungsverhalten. „Das Einstiegsalter bei der Nutzung digitaler Medien hat sich deutlich nach unten verschoben“, stellt der Psychotherapeut fest. 

Eine aktuelle repräsentative Studie von ihm* mit 3.035 Eltern und deren Kinder im Alter von null bis vier Jahren zeigt, dass bereits 18 Prozent der unter Einjährigen täglich durchschnittlich 7,2 Minuten Medien nutzen, gefolgt von den Ein- bis Zweijährigen mit 61 Prozent und einer täglichen Bildschirmzeit von 14 Minuten. Als Gründe für den frühen Medienkonsum der unter Einjährigen gaben 52 Prozent der Eltern an, um das Kind zu beschäftigen, gefolgt von 27 Prozent, die angaben, ihrem Baby vor dem Einschlafen Medien anzubieten. 

Paulus appelliert an Eltern, Fachkräfte und politische Entscheider, in der sensiblen frühen Entwicklungsphase der ersten 18 Monate gänzlich auf digitale Medien zu verzichten, denn die Eltern-Kind-Interaktion und -Bindung als zentrale Grundlage für die Kindesentwicklung wird durch elterliche Mediennutzung enorm gestört. Außerdem beeinträchtigt Mediennutzung des jungen Kindes all seine relevanten Entwicklungsbereiche wie die psychosoziale, emotionale und motorische Entwicklung sowie Kognition, Sprache, Ernährung und Schlaf.

Medienberatung notwendig

„Viele Eltern, aber auch sozialpädagogische Fachkräfte, sind mit der Komplexität von Informationen überfordert oder durch teilweise widersprüchliche Empfehlungen in Erziehungsfragen verunsichert. So glauben sie an den Spracherwerb über den Flachbildschirm, erlauben Videospiele zum Konzentrationstraining oder wollen ihren Kindern in Vorbereitung auf die Schule Sicherheit im Umgang mit digitalen Geräten vermitteln“, so die Senatsmitarbeiterin. 

Hier sei es vor allem wichtig, ein gutes Beratungsangebot für Eltern zu schaffen, um über die Folgen eines zu frühen und intensiven Medienkonsums aufzuklären, so die Quintessenz einer der vier Workshops, die im Anschluss der Fachvorträge stattfanden. 

Praxisalltag

Ruth Willenberg ist eine der Teilnehmerinnen des Fachtags. Die Heilpädagogin berät seit 2022 in einem der sieben Heilpädagogischen Fachdienste der Ki.D.T. gGmbH. Das Thema Medienkonsum taucht in ihren Beratungsgesprächen immer häufiger auf. „Das Thema hat deutlich zugenommen“, berichtet die 32-Jährige. „Oft sind es Verdachtsmomente, dass zu viel oder zu lange Medien konsumiert werden. Gerade wenn es um die Eltern-Kind-Bindung geht oder es Verhaltensauffälligkeiten gibt, die dann meist den Spracherwerb betreffen, steht oft ein vermehrter Medienkonsum im Raum“, fährt sie fort. 

In der Beratung ist der Heilpädagogin aber vor allem wichtig, auch die Eltern zu entlasten. Es geht nicht darum, mit erhobenem Finger auf die Eltern zu zeigen. Willenberg möchte die Eltern aufklären und ihnen ein gesundes Maß an Medienzeit vermitteln, damit auch sie im Alltag ein Stück weit entlastet werden. Für Ruth Willenberg, die selbst Mutter ist und somit das Medienverhalten ihrer beiden Kinder kritisch hinterfragt, war der Fachtag ein spannender und gelungener Austausch. „Vieles kennt man, aber es ist gut, sein Wissen aufzufrischen“, fasst sie die Veranstaltung zusammen.

Paulus, F.W. et al., (2024). Familial context influences media usage in 0- to 4-year old children. Frontiers in Public Health, 11:1256287. doi: 10.3389/fpubh.2023.1256287 (OPEN ACCESS)

Dokumentation und weiterführende Materialien

Die Dokumentation der Veranstaltung sowie weiterführende Materialien finden Sie auf der Website der Berliner Kiebitze.