„Es gibt zu viele Hürden für Geflüchtete mit Behinderung“
Nadine Heinrich ist Leiterin einer Geflüchtetenunterkunft in Berlin-Lichtenberg. In der Unterkunft sprachen wir mit ihr und dem Geflüchtetenbeauftragten des VdK Berlin-Brandenburg, Roland Jänsch, über die Situation von Geflüchteten mit Behinderung in Berlin und was sich ändern muss.
Roland Jänsch holt mich vor der Unterkunft ab, wir passieren den Wachdienst. „Die Jungs machen einen ganz tollen Job und sind super nett“, sagt er. Wir laufen durch die Gänge des Gebäudes zu einem Besprechungsraum, auf dem Weg trifft Jänsch Bewohner*innen der Unterkunft und begrüßt sie herzlich. Im Vorbeigehen erzählt er mir, wie er dem Herrn, und der Dame hier und der Familie dort schon helfen konnte. Denn Roland Jänsch ist ehrenamtlicher Geflüchtetenbeauftragter des VdK Berlin-Brandenburg und jede Woche in verschiedenen Unterkünften unterwegs, um geflüchtete Menschen zu unterstützen. Er hilft zum Beispiel dabei, Hilfsmittel oder einen Pflegegrad zu beantragen. Seit 2015 macht er diesen Job. Am Anfang ist er noch zu allen Unterkünften gefahren und hat seine Hilfe angeboten. Heute wird er von den Unterkünften angesprochen und geht dorthin, wo Bedarf besteht.
Herausfordernde Zeiten
Im Besprechungsraum treffen wir Nadine Heinrich, die Leiterin der Unterkunft. Im Jahr 2020 hat sie und ihr zwölfköpfiges Team als neuer Betreiber die Unterkunft mit einer Kapazität von 444 Bewohner*innen übernommen. „Ich habe die Unterkunft während der Pandemie übernommen. Diese Situation war sehr schwierig, da wir keine Möglichkeit hatten, die Bewohner*innen richtig kennenzulernen. Wir haben in den letzten vier Jahren viel erreicht und konnten ein breites Angebot für unsere Bewohner*innen anbieten: Impf-Aktionen mit der Bundeswehr, tolle Projekte mit Kooperationspartnern im Haus und natürlich auch Unterbringung in eigenem Wohnraum. Darauf gemeinsam zurückzublicken ist wirklich schön“, so die Leiterin. „Zum Beispiel der Gemeinschaftsgarten, den die Bewohnenden angelegt haben“, wirft Jänsch ein. „Ja, das ist ein wirklich tolles Projekt, da arbeiten ganz viele Nationalitäten zusammen und das klappt ganz prima, es gibt keinen Streit, es verbindet vielmehr die Menschen miteinander“, so Heinrich.
Bewohner*innen unterstützen
Sehr dankbar ist die Leiterin auch für die Unterstützung durch die Bewohner*innen: „Herr Karitchashvili dolmetscht für uns auf Georgisch und hilft den Bewohner*innen hier und in anderen Unterkünften bei ihren bürokratischen Angelegenheiten (Anmerkung der Redaktion: Externer Link:Giorgi Karitchashvili wurde in der September-Ausgabe der VdK-ZEITUNG in einem Portrait ausführlich vorgestellt). Eine andere Bewohnerin hilft in unserer Kleiderkammer und bei der Tafel. Inzwischen ist sie Sozialberaterin bei uns. Zwei weitere Frauen machen Hausaufgabenhilfe für die Kinder. Es ist toll zu sehen, wie sich die Bewohner*innen ehrenamtlich engagieren“, freut sich Heinrich.
Auch mit Roland Jänsch klappt die Zusammenarbeit sehr gut, erzählt die Leiterin: „Er ist uns eine große Hilfe, wenn die Bewohner*innen technische Hilfsmittel wie einen Elektrorollstuhl oder andere Leistungen benötigen.“
Zu viele Hürden
Jänsch berichtet, dass es sowohl für Geflüchtete als auch generell für Menschen mit Behinderung oft nicht einfach ist, die Leistungen zu bekommen, die sie benötigen. „Manchmal dauert es 209 Tage, bis das LAGeSo (Anmerkung der Redaktion: Landesamt für Gesundheit und Soziales) einen Schwerbehindertenausweis genehmigt. Das ist viel zu lange. Dazu kommen die ganze Bürokratie und Sprachbarrieren als Hürden. Zum Beispiel verschreiben Ärzt*innen einen Rollstuhl, aber die Leute bekommen ihn nicht, weil die Krankenkassen ihn aus finanziellen Gründen ablehnen. Ich helfe den Ratsuchenden dann bei den Auseinandersetzungen mit den jeweiligen zuständigen Stellen und unterstütze sie bis sie ihre Leistungen bekommen. Aber so kann es nicht weitergehen. Im Gesundheitswesen muss sich einiges ändern“, kritisiert Jänsch.
„Ja, die lange Bearbeitungszeit der Anträge ist wirklich ein Problem. Klar, die sind auch alle überlastet und es hat auch etwas mit dem Aufenthaltsstatus der Bewohner*innen zu tun, welche Leistungen sie bekommen oder nicht. Aber da muss sich was ändern, allein die Beeinträchtigungen der Menschen, die ersichtlich sind, da muss es schneller gehen“, ergänzt die Leiterin.
Fehlende Versorgung
Zehn bis 15 Prozent aller Geflüchteten sind laut Schätzungen Menschen mit Behinderung, chronischen Erkrankungen und kognitiven Einschränkungen (Quelle: Zweiter Teilhabebericht der Bundesregierung 2016). Repräsentative Daten liegen nicht vor, da es in Deutschland keine systematische Erfassung des Merkmals „Behinderung“ bei Geflüchteten gibt. Dies hat zur Folge, dass die unmittelbar notwendige medizinische Versorgung von geflüchteten Menschen mit Behinderung in sehr vielen Fällen nicht gewährleistet ist und sie nicht in barrierefreien Unterkünften untergebracht werden können. Die Versorgung mit Hilfsmitteln und notwendigen Behandlungen kann sich erheblich verzögern.
Barrierefreier Wohnraum
„Erschwerend kommt hinzu, dass es zu wenig barrierefreien Wohnraum und generell zu wenig Unterkünfte für Geflüchtete gibt. Täglich kommen allein in Berlin 1200 Geflüchtete an. Die müssen erst einmal untergebracht werden und Menschen mit Behinderung brauchen Unterkünfte, die speziell ausgerichtet sind und in denen es medizinisches Fachpersonal gibt. Die gibt es zu wenige“, sagt Heinrich. Viele Menschen mit Behinderung sind auf regelmäßige medizinische Versorgung oder Medikamente angewiesen. „Wir haben hier in der Unterkunft zum Beispiel Appartements, die barrierefrei oder barrierearm sind. Das ist erst einmal eine adäquate Unterbringung, aber auch eine Belastung. Es geht viel Zeit verloren, bis der Mensch die Pflege und alles andere Wichtige bekommt. Die Bewohner*innen sind in manchen Situationen einfach verloren, sie sind hilflos. Es gibt auch schon komplett barrierefreie Unterkünfte in Berlin, aber das sind zu wenige“, so die Leiterin der Unterkunft.
Ein tolles Team
Dann klopft es an der Tür. Der Raum wird schon wieder gebraucht, jetzt für eine Supervision. Bei fast 500 Bewohner*innen und nur zwölf Mitarbeitenden gibt es immer viel zu tun. Heinrich ist ihrem Team sehr dankbar: „Das Team leistet hier vor Ort wirklich tolle Arbeit, gerade auch unser Sozialteam und die Ehrenamtskoordinatoren, auch der Hausmeister, die Hauswirtschaft, die Verwaltung, alle. Alle arbeiten hier Hand in Hand und unterstützen sich gegenseitig.“
Wir kommen zum Ende des Interviews. Heinrich erklärt, dass sie sich eine Verlängerung ihres Betreibervertrages wünscht: „Wir haben hier so viel Integrationsarbeit geleistet und so viel auch mit den Bewohner*innen erreicht. Das möchte ich gerne fortsetzen können.“