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ADHS ist keine Mode-Diagnose

Von: Lea Hanke

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betrifft nicht nur Kinder. Viele Erwachsene erhalten die Diagnose erst spät, oft nach einem langen Leidensweg. Ruth Endriss von der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) Reinickendorf erklärt, welche Hilfen es gibt und warum Beratung ein wichtiger Schritt sein kann.

Mann in grauem Hemd schaut verträumt im Büro über einem Diagramm auf Papier am Schreibtisch mit Laptop und Kaffeebecher.
Menschen mit ADHS sollten in ihrem Beruf abwechslungsreiche Aufgaben haben, da sie sonst schnell abgelenkt oder müde werden. © Freepik

Menschen mit ADHS gelten oft als zerstreut, unruhig oder impulsiv, doch diese Klischees greifen zu kurz. ADHS äußert sich bei jedem Menschen anders. Viele Betroffene fühlen sich überfordert und suchen nach Wegen, ihren Alltag besser zu bewältigen. Ruth Endriss begleitet sie dabei. Viele Ratsuchende, so Endriss, seien zwischen 30 und 55 Jahre alt und hätten bereits eine längere Phase mit beruflichen Schwierigkeiten hinter sich, zum Beispiel mehrfach abgebrochene Ausbildungen oder Jobwechsel. „Jetzt sind sie krankgeschrieben, haben die Diagnose ADHS bekommen und fragen sich: Was mache ich jetzt?“, beschreibt sie die häufige Ausgangssituation. 

Keine Kinderkrankheit

Oft sind es Alltagsprobleme, die den Ausschlag geben, Hilfe zu suchen: Schwierigkeiten, den Alltag zu strukturieren, Reizüberflutung, das Aufschieben von Aufgaben oder schlicht die Sorge um den Job. „Es sind keine Einzelfälle. Studien gehen davon aus, dass mindestens zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung ADHS haben. Ich schätze die Zahl sogar höher ein“, so die Beraterin. Noch immer begegnet Endriss dem Vorurteil, ADHS sei im Erwachsenenalter nur eine Modeerscheinung. „Viele Menschen, wie Arbeitgeber*innen oder auch Psycholog*innen, nehmen ADHS nicht ernst oder haben zu wenig Wissen darüber. Manche denken, ADHS habe man nur als Kind oder Jugendliche*r. Es setzt sich jetzt erst langsam durch, dass das nicht weggeht. Für mich ist es ein Persönlichkeitsmerkmal, ich sehe es nicht als Krankheit. Offiziell läuft es natürlich unter Krankheit“, erklärt sie.

Portrait Ruth Endriss
Ruth Endriss, EUTB-Beraterin des VdK Berlin-Brandenburg. © privat

Zugang zu Hilfen erschwert

Die fehlende Anerkennung von ADHS im Erwachsenenalter führe auch dazu, dass es schwer sei überhaupt eine*n Ärzt*in oder Psycholog*in zu finden, der*die ADHS diagnostiziert. „Die Wartezeiten auf Termine sind extrem lang, bis zu einem Jahr. Oft sind die Wartelisten geschlossen“, so Endriss. Ohne Diagnose aber fehlt die Grundlage, um Hilfen zu beantragen, wie Eingliederungshilfe, therapeutische Unterstützung oder Rehabilitationsleistungen. Deshalb werde oft eine Depression diagnostiziert, die als Folge der ADHS-Problematik zusätzlich besteht. Für eine Depression sei der Zugang zu Therapien meist einfacher.

„Viele Betroffene wissen gar nicht, dass ihnen Sozialleistungen zustehen“, sagt die Beraterin. In ihren Gesprächen klärt sie über Möglichkeiten auf: Beispielsweise über den Antrag auf einen Grad der Behinderung (GdBkurz fürGrad der Behinderung), der oft schon ab einer ADHS-Diagnose bewilligt wird – meist mit einem Wert von 30. Mit dem GdBkurz fürGrad der Behinderung ergeben sich Ansprüche, zum Beispiel auf spezialisierte Beratung durch die Arbeitsagentur oder auf Unterstützung im Beruf. „Der Begriff Behinderung beim GdBkurz fürGrad der Behinderung schrecke viele ab. Aber so ein Antrag kann enorm helfen“, sagt Endriss. Es gehe nicht darum, in eine Schublade gesteckt zu werden, sondern darum, seine Rechte wahrzunehmen und Unterstützung zu erhalten.“

Ein weiterer wichtiger Antrag, den sie mit ihren Klient*innen stellt, ist der Antrag auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) bei der Deutschen Rentenversicherung oder der Arbeitsagentur. Damit können zum Beispiel Berufswechsel angestrebt oder Coachings, Umschulungen oder berufliche Rehabilitationsmaßnahmen gefördert werden. Wer eine Gleichstellung beantragt, hat zusätzliche Rechte wie ein schwerbehinderter Mensch, zum Beispiel Kündigungsschutz, was eine wichtige Absicherung ist. Im Einzelfall kann auch eine Eingliederungshilfe im Alltag, zum Beispiel durch eine Assistenz, in Frage kommen, etwa wenn alltägliche Aufgaben überfordern.

Individuelle Wege

Die Beraterin unterstützt Ratsuchende dabei, individuelle Wege zu finden und Prioritäten zu setzen. „Viele Menschen mit ADHS kommen oft nach einem längeren Leidensweg zu uns. Dann ist es unsere Aufgabe, gemeinsam zu schauen: Was brauche ich? Welche Möglichkeiten habe ich?“, erklärt Endriss. Die Gespräche seien dabei häufig lebhaft und vielseitig: „ADHSler erzählen viel, sind offen und neugierig, das macht die Beratung auch sehr schön.“

ADHS hat viele Gesichter. Reizüberflutung, Impulsivität, Prokrastination (Anmerkung der Redaktion: wiederholtes und übermäßiges Aufschieben von Aufgaben) oder chronische Unpünktlichkeit können das Leben erschweren. Aber es gibt auch eine andere Seite: „ADHSler sind oft Improvisationsmeister, haben das Herz auf der Zunge, geben viele neue Impulse, sind kreativ und ehrlich“, sagt Endriss. Wichtig sei, dass die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. „Routinetätigkeiten wie Datenbankpflege sind für viele der blanke Horror, aber in abwechslungsreichen, kreativen Jobs blühen sie auf und sind wertvolle Mitarbeitende.“

Endriss erinnert sich an einen Ratsuchenden, der immer wieder seinen Job verlor, weil er bei der Büroarbeit einschlief. „Das lag an einem zu niedrigen Dopaminspiegel im Gehirn. Das Belohnungssystem reagiert bei Routinetätigkeiten mit Erschöpfung.“ Viele Betroffene versuchen jahrelang, sich in für sie ungeeigneten Strukturen zu behaupten und scheitern. „Mit der richtigen Unterstützung, der passenden Therapie und einem gut abgestimmten Jobumfeld gelingt es aber häufig, das Leben neu zu ordnen“, so Endriss.

Mehr Verständnis

Endriss wünscht sich mehr gesellschaftliche Aufklärung über ADHS und ein Ende der Stereotypisierung. „In der Öffentlichkeit sieht man oft die ‚chaotischen Genies‘, wie Künstler*innen, Schauspieler*innen oder Prominente. Aber die Realität ist: Viele Menschen mit ADHS führen ganz normale Leben, sind unauffällig, aber kämpfen im Alltag mit kleinen Schwierigkeiten.“ Sie bräuchten lediglich Verständnis, passende Strategien und einen offenen Umgang.

Ihr Appell: „Viele Menschen mit ADHS haben ein geringes Selbstvertrauen, weil sie oft angeeckt oder gescheitert sind. Aber oft fehlt nur die richtige Weichenstellung.“ Genau da setzt die EUTB an. Endriss ermutigt alle, die bei sich ADHS vermuten, Beratung in Anspruch zu nehmen – auch bei „kleinen“ Alltagsproblemen. „Man muss nicht erst am Ende sein, um Unterstützung zu erhalten.“ 

Kontakt

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