Sophie will endlich Laufen lernen
Bisher hat die alleinerziehende Lotte Albrecht (Nachname von der Redaktion geändert) alle bürokratischen Hürden alleine gemeistert. Als sie jedoch an einem Punkt mit ihrer Krankenkasse nicht mehr weiterkommt, verhilft ihr die Sozial- und Rechtsberatung des VdK Berlin-Brandenburg zu ihrem Recht.
Lotte Albrecht ist eine Macherin. Das merkt man an ihrer Energie, die sie trotz der Mehrfachbelastung als alleinerziehende Mutter von drei Kindern, eines davon mit Down-Syndrom, ausstrahlt. Seit der Geburt ihrer Tochter Sophie, die 2021 zudem mit einem schweren Herzfehler zur Welt kam, musste sie um das Leben und die Gesundheit ihrer Tochter kämpfen.
Schwerer Start
Die ersten sechs Monate verbringt Sophie im Deutschen Herzzentrum. Zu diesem Zeitpunkt muss das kleine Mädchen täglich rund um die Uhr 19 Medikamente einnehmen. Erst als sie eineinhalb Jahre alt ist, reduziert sich ihre tägliche Dosis. Ihr Pflegegrad wird zu diesem Zeitpunkt, ohne Angabe von Gründen, von 3 auf 2 runtergestuft. Dies veranlasst Sophies Mutter – früher als geplant – wieder in ihren alten Beruf als Erzieherin zurückzukehren. Seitdem managt Lotte Albrecht ihr Leben und das ihrer drei Kinder so gut es geht. Dabei werden ihr immer wieder Steine in den Weg gelegt, denn Sophie benötigt aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen dringend notwendige Hilfsmittel, die immer wieder abgelehnt werden. In Albrechts Schrank türmen sich Aktenordner gefüllt mit unzähligen Schreiben ihrer Krankenkasse und ärztlichen Befunden. „Als Sophie gerade ein Jahr alt war, hatte ich bereits vier Ordner“, teilt die Mutter mit.
Persönliche Begutachtung
Als Albrecht vor gut einem Jahr die Sozial- und Rechtsberatung des VdK Berlin-Brandenburg aufsucht, hat sie bereits fünf erfolglose Anträge bei ihrer Krankenkasse gestellt. Immer geht es um die Bewilligung von Einlagen, später um Orthesen, die die damals Anderthalbjährige dringend benötigt, um Laufen zu lernen. Denn anders als andere Kinder rutscht die kleine Sophie mit zweieinhalb Jahren noch auf ihrem Po, um sich fortzubewegen. Immer wieder argumentiert die Krankenkasse, dass Sophie keinen diagnostizierten Platt-, Klump- oder Knickfuß habe, der Sprunggelenkorthesen rechtfertige. Stattdessen solle Sophie barfuß auf verschiedenen Untergründen laufen, so die Begründung der Krankenkasse. Für Lotte Albrecht ist das völlig unverständlich, denn zu diesem Zeitpunkt kann sich die lebensfrohe Sophie nur an Gegenständen hochziehen. „Das kam mir vor, wie ein schlechter Witz. Nie war ein Gutachter bei uns Zuhause, um Sophies Gesundheitszustand zu beurteilen. Wäre er da gewesen, hätte er gesehen, dass meine Tochter nicht laufen kann. Als ich dann den letzten Ablehnungsbescheid erhielt, dachte ich, jetzt reicht’s! Ich brauche Hilfe.“
Aktenlage entscheidet
„Wir erleben das leider immer wieder“, so die Sozialrechtsreferentin Julia Flint-Ayadi, die Sophies Fall betreute. „Die Krankenkassen lehnen dringend notwendige Hilfsmittel immer wieder ab. Oft ist es aus fachlicher Sicht nicht nachvollziehbar. Besonders fatal ist, dass häufig nach Aktenlage entschieden wird, wie im Falle von Sophie. Nie wurde die Familie von einem Gutachter besucht, der das Kind in seinem Umfeld erlebt und sieht, wie die Motorik entwickelt ist“, moniert Flint-Ayadi. Albrecht ist kein Einzelfall. Das bestätigt auch ihr Umfeld. Seit der Geburt ihrer Tochter ist sie Mitglied im Verein downsyndromberlin. Für die Eltern ihrer Selbsthilfegruppe waren die vielen Ablehnungsbescheide der Krankenkasse keine Überraschung. Sie ermutigen die Alleinerziehende immer wieder durchzuhalten und dranzubleiben.
Durchhaltevermögen
Da Widerspruch- und Klageverfahren in der Regel Jahre dauern können, rät Flint-Ayadi – parallel zum Klageverfahren – einen Eilantrag beim Sozialgericht zu stellen. „Normalerweise muss solch ein Eilantrag gut und umfassend begründet werden. In Sophies Fall war dies aber sehr eindeutig, da es um ein Kind geht, das Laufen lernen will und das nicht erst zwei Jahre später“, erklärt die erfahrene Sozialrechtsreferentin. Für das Eilverfahren muss Albrecht weitere umfangreiche ärztliche Gutachten einreichen – mit Erfolg. Ein halbes Jahr nach Einleitung des Eilverfahrens erhalten Sophie und ihre Mutter – dank der Unterstützung des VdK – Recht und die inzwischen Dreijährige die dringend benötigten Orthesen. Endlich kann Sophie nun Laufen lernen. Albrecht erinnert sich noch gut daran, als Sophie vor wenigen Monaten ihre Orthesen erhielt: „In dem Moment, wo sie die Orthesen bekam, konnte sie aufrecht stehen, ohne zu schwanken, wegzuknicken oder umzufallen. Plötzlich stand sie und lief vorwärts. Vorher ist sie zum Teil nach hinten weggekippt, weil sie sich nicht halten konnte. Seitdem sie merkt, dass sie vorankommt, ist sie richtig schnell geworden und kann mit dem Tempo gleichaltriger Kinder mithalten. Sophie hat seitdem einen immensen Entwicklungsschritt gemacht, der auch andere Areale befördert. Sie hat angefangen zu sprechen. Es kommen Töne und jetzt auch die ersten Wörter.“
Kompetente Beratung
„Ohne die Unterstützung des VdK hätte ich das nicht geschafft“, resümiert die 43-Jährige erleichtert. „Frau Flint-Ayadi hat immer pünktlich geantwortet und hatte alle Deadlines (Anmerkung der Redaktion: Termine) im Blick. Das war eine große Erleichterung. Und auch ihre fachliche Beratung war auf den Punkt und wirklich gut. Vor allem die Sache mit dem Eilantrag hat sie gut gemacht. Das war ein echter Kunstgriff.“
Sozialrechtsreferentin Flint-Ayadi rät deshalb: „Wer schon im Vorfeld ahnt, dass es Probleme bei der Bewilligung von Hilfsmitteln geben könnte, sollte sich beim VdK frühzeitig beraten lassen und einen guten Draht zum Arzt pflegen.“ Denn der Ausgang eines Verfahrens hängt oftmals von der Einschätzung der behandelnden Ärzte ab.
Das muss sich ändern
In all der Zeit sind es immer wieder ihre Kinder, die Lotte Albrecht Kraft geben: „Wir halten zusammen und sind füreinander da, das trägt uns – auch in schweren Zeiten.“ Aber auch Sophies Patenfamilie, die im gleichen Haus wohnt, unterstützt nach Kräften. Unterstützung wünscht sich Albrecht auch von der Politik: „Ich wünsche mir eine größere Lobby für uns Familien, die ihre meiste Zeit in die Pflege ihrer Kinder investieren. Dass die Politik den Krankenkassen solche Freiheiten bei der Umsetzung der Gesetzeslage lässt, ist ein Unding.“ Zudem fordert die Berlinerin unbürokratische Unterstützung. „Ich möchte, dass meine Krankenkasse den Menschen in der Familie sieht. Wenn die Krankenkasse nicht den Kontakt zum Menschen herstellt, sieht sie nicht, was dieses Hilfsmittel für den Menschen bedeutet und wie es das Leben und den Alltag erleichtern kann. Ich wünsche mir mehr Transparenz und Menschlichkeit von solchen `Krankenkassen-Riesenapparaten´“, fährt sie fort. „Ohne ein Kind persönlich zu begutachten und dann ein Hilfsmittel einfach abzulehnen, ist schon dreist. Ich wünsche mir, dass keine medizinischen Gutachten ohne persönliche Besuche stattfinden“, ergänzt Albrecht.
Auch wenn Sophie jetzt mit Hilfe der Orthesen Laufen lernen konnte, liegen vor der Familie noch viele lange Antragswege, denn Sophie ist ihr Leben lang auf Hilfsmittel und Unterstützung angewiesen. Der VdK Berlin-Brandenburg wird sie auch weiterhin dabei unterstützen.