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„Ich möchte Menschen mit Tourette Mut machen“

Von: Lea Hanke

Umiko Vettermann ist eine Komponistin, bei der das Tourette-Syndrom diagnostiziert wurde. Seit sie die Medikamente abgesetzt hat, kann sie ihre Kreativität voll entfalten. Wir sprachen mit ihr über ihren musikalischen Werdegang und ihren Umgang mit der Krankheit.

Portrait der Komponistin am Klavier in der Kirche.
Komponistin Umiko Vettermann übt regelmäßig am Klavier in der Passionskirche in Kreuzberg. © VdK Berlin-Brandenburg

Frau Vettermann, wie sind Sie zur Musik gekommen? 

Ich habe vor zehn Jahren angefangen, Musik zu machen, nachdem ich einen Bericht über den englischen Pianisten Nick van Bloss gesehen habe, der wie ich das Tourette-Syndrom hat. Es stellte sich heraus, dass Musik für mich eine ähnliche Wirkung hat wie bei ihm. Egal wie nervös ich bin, Musik entspannt mich. Die ganze Energie, die in die Tics fließen würde, fließt in die Musik. Vor dreieinhalb Jahren habe ich die Medikamente gegen das Tourette-Syndrom abgesetzt. Danach konnte sich meine Kreativität voll entfalten und ich begann mein ganzes Leben zu hinterfragen. 

In dieser Zeit habe ich auch den Mut gefasst, als Frau zu leben. Ich bin nämlich intergeschlechtlich; bei meiner Geburt 1970 wurde mein Geschlecht falsch zugeordnet. Vor dreieinhalb Jahren habe ich meinen Personenstand in weiblich und meinen Vornamen in Umiko, meinen japanischen Mädchennamen, ändern lassen. 2021 bin ich nach Berlin gekommen, weil ich in meiner Heimatstadt Mannheim mit meiner Musik nicht mehr weitergekommen bin. In Berlin war vieles einfacher. Ich habe auch gleich die passenden Übungsräume gefunden. 

Erzählen Sie uns bitte etwas über Ihren japanischen Mädchennamen.

Ich habe 2007 eine Reise nach Japan gemacht und hatte das Gefühl nach Hause zu kommen. Ich fühle mich so tief in Japan verwurzelt, ich weiß nicht warum und dann habe ich nach einem japanischen Mädchennamen für mich gesucht, der eigentlich geschlechtsneutral ist. Ich fand den wunderschönen Namen Umiko, was so viel bedeutet wie „Kind des Meeres“.

Und wie ging es für Sie in Berlin weiter?

Ich habe an meinem ersten Konzert gearbeitet. Ich habe viele Konzerthäuser angefragt, aber als unbekannte Komponistin ist das ziemlich schwierig, also habe ich selbst ein Konzert im Zoo-Palast organisiert. Als Sponsor fand ich das Bechstein Centrum. Zusammen mit einem Grafiker entwarf ich Eintrittskarten und Plakate. Das Konzert war ein großer Erfolg. Ich hatte das Glück, die richtigen Leute zu finden. Im Prinzip mache ich alles selbst: Ich schreibe meine Stücke, nehme sie auf und bearbeite sie selbst. Aus den Audiodateien erstelle ich mit einer KI-App Noten. Im Moment habe ich ein paar offene Anfragen bei der Musikfakultät der Berliner Universität der Künste und einem Education-Team der Philharmonie. Mein Tourette-Engelchen gibt mir den Mut, diese Anfragen zu stellen.

Was meinen Sie mit Tourette-Engelchen?

Ich habe lange gebraucht, um mein Tourette zu akzeptieren. Ich habe gelernt, wenn sich jemand im Alltag durch meine Tics gestört fühlt, dann ist das eben so. Mittlerweile sehe ich mein Tourette als eine Art große Schwester, die auf mich aufpasst, sie ist mein Tourette-Engelchen. Sie sagt mir: „Komm, wir bewerben uns hier und da.“ Sie gibt mir den Mut dazu. Früher haben die Medikamente alles unterdrückt. Jetzt kann ich mich endlich entfalten.

In Berlin ist es sowieso leichter, damit zu leben. Es stört kaum jemanden. Es gab eine Situation im Bus, da hat sich jemand gestört gefühlt, nur weil ich neben ihm stand. Mein Tourette-Engelchen fühlte sich angegriffen und hat dann geschimpft. Die Situation hat sich immer weiter hochgeschaukelt, bis ich den Bus verlassen musste. Das war schon sehr unangenehm. Zum Glück ist das hier eher die Ausnahme. Die meisten Leute fragen eigentlich: „Hast du mich gemeint?“ Diesen Leuten kann man es eigentlich immer erklären und sie verstehen es auch. 

Was für einen Umgang würden Sie sich von den Menschen aus Ihrem Umfeld wünschen? 

Mir würde es helfen, wenn die Menschen in solchen Situationen auf mich zukommen und mich fragen: „Was hast du gerade gemeint? Was ist da gerade passiert?“ Heutzutage gibt es gar nicht mehr den Raum, das den Menschen zu erklären. Es wird viel weggeschaut, egal ob es sich um körperliche oder verbale Situationen handelt. Ich wünschte, ich könnte die Konflikte mit meiner Musik lösen.

Wir treffen uns für das Interview in einer Kirche. Welche Bedeutung hat diese für Sie? 

Die Kirche ist für meine Musik ein besonderer Ort. Bereits seit meiner Kindheit habe ich Wurzeln zur evangelischen Kirche. Als ich nach Berlin kam, entdeckte ich die Passionskirche und die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg. Ich bin gleich in den Austausch mit dem Kantor der Heilig-Kreuz-Kirche gekommen und er hat nach Möglichkeiten zum Spielen für mich geschaut. So konnte ich bereits meine eigenen Stücke bei einer Gedenkaktion am Weltflüchtlingstag spielen. Das war ein großes Glück. In beiden Kirchen kann ich die Flügel zum Spielen nutzen. In Zukunft möchte ich dort gerne ein eigenes Konzert geben. 

Haben Sie vor Konzerten Routinen oder Strategien? Achten Sie auch darauf wie Sie mit Ihren Symptomen umgehen?

In Gedanken gehe ich alles durch. Alles andere ergibt sich dann. Sobald ich anfange zu spielen, ist mein Tourette-Engelchen an meiner Seite, es ist aber ganz lieb. Nur nach dem Spielen habe ich motorische Einschränkungen, das heißt, ich bekomme Krämpfe in den Füßen. Dann ist es gut, wenn mir jemand von der Bühne hilft. Bei Konzertanfragen bin ich immer unsicher, ob ich mein Tourette-Syndrom erwähnen soll oder nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, wenn ich es erwähne, wird es missverstanden. Insofern: „Wie, die hat Tourette? Will die bevorzugt werden?“ Dann habe ich wiederum das Gefühl, ich sollte es erwähnen und tue es dann auch. Viele wissen gar nicht, wie sie mit Menschen, die das Tourette-Syndrom haben, umgehen sollen. Sie haben zum Beispiel etwas auf YouTube gesehen, aber das stellt die Erkrankung meistens falsch dar.

Können Sie mit eigenen Worten erklären, was das Tourette-Syndrom ist?

Per Definition ist es eine psychomotorische Beeinträchtigung. Aber die Ärzte wissen nicht genau, wie sie entsteht. Es betrifft oft die Motorik und das Sprachzentrum. Wenn ich aufgeregt bin, kann das leicht außer Kontrolle geraten. Tourette-Syndrom ist ein Sammelbegriff für viele verschiedene Symptome. Sie können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Als Filmtipp kann ich „Ein Tick anders“ empfehlen, der erklärt das sehr schön und ist wirklich gut gemacht. 

Haben Sie noch weitere Tipps?

Ja, noch einen Film: Phoebe im Wunderland, der erklärt das auch sehr gut. Ansonsten kann ich noch die Musik von Nick van Bloss und dem japanischen Komponisten Yusuke Osada empfehlen, die haben auch Tourette. Eine andere prominente Vertreterin ist Billie Eilish. Auch bei ihr fließt das Tourette stark in die Musik ein.

Was würden Sie anderen Menschen mit Tourette-Syndrom oder einer anderen neurologischen Krankheit mitgeben?

Ich möchte anderen Musikschaffenden, die auch Tourette oder ein anderes Handicap haben, mitgeben, dass sie den Mut haben sollen, so etwas zu machen, wie ich es mache. Das ist mir wichtig. Lasst euch nicht davon abhalten. Man sollte, wenn man etwas gefunden hat, wo man so aufgeht, das einfach weiterverfolgen. Man wird schon nach und nach die Menschen finden, die einen unterstützen. Generell ist es schade, dass Künstler mit Handicap in Deutschland so wenig unterstützt werden. Im Vergleich zu den USA oder Großbritannien werden Künstler mit Handicap dort viel mehr gefördert. Es gibt hier so viele Hürden, die man überwinden muss. Ich würde mir wünschen, dass es hier so etwas wie „We Are Unlimited“ gäbe. Die unterstützen und fördern Künstler mit Behinderung

Interview: Lea Hanke

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Wenn Sie Interesse an der Musik von Umiko Vettermann haben, können Sie hier reinhören.