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„Ich möchte, dass Menschen wie ich gesehen werden“

Von: Lea Hanke

Maryam Madjidi (Nachname von der Redaktion geändert) leidet unter dem Post-Polio-Syndrom, einer Erkrankung, die mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen einhergeht. Heute kämpft das VdK-Mitglied nicht nur gegen die Krankheit, sondern auch gegen ein System, das ihre Rechte oft nicht anerkennt.

Portrait Maryam Madjidi am Schreibtisch. Ihre Krücke liegt neben ihr. Sie trägt eine Beinorthese.
Maryam Madjidi kämpft bei den Behörden immer wieder, um die Anerkennung ihrer Rechte, um weiterhin ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. © Maryam Madjidi

Die Diagnose Post-Polio-Syndrom erhielt die gebürtige Iranerin erst im Jahr 2018, als sie eine Polio-Spezialklinik in Koblenz aufsuchte. Das Post-Polio-Syndrom tritt erst Jahre oder Jahrzehnte nach einer Polio-Infektion, auch als Kinderlähmung bekannt, auf. Die heute 49-Jährige leidet unter zunehmender Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Muskelschwäche, vor allem auf der linken Körperseite. Trotz dieser offensichtlichen Einschränkungen wird ihr oft geraten, durch Muskeltraining die Muskulatur zu stärken, um das Skelett zu entlasten. Doch die Spezialist*innen in Koblenz warnen vor Überanstrengung, da jede zusätzliche Belastung die Muskeln noch weiter abbauen würde, ähnlich wie bei der Multiplen Sklerose.

„Es war ein schleichender Prozess“, erklärt Madjidi. „Bis Mitte 20 merkte ich nichts, aber dann ging es bergab. Der Alltag ist eine ständige Herausforderung, insbesondere nachmittags, wenn ich keine Energie mehr habe, egal wie viel ich schlafe oder wie sehr ich mich schone.“

Mobil bleiben

Trotz ihrer schweren Einschränkungen versucht sie, ihr Leben so aktiv wie möglich zu gestalten. Sie trägt eine Beinorthese, um überhaupt gehen zu können, doch das Gehen ist mit erheblichen Schmerzen und Risiken verbunden. So ist sie bereits mehrfach in öffentlichen Verkehrsmitteln gestürzt und hat sich dabei das Knie und die Hüfte gebrochen. Diese Erfahrungen haben ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. „Ich bin sehr instabil, besonders auf rutschigem Boden oder in überfüllten Bussen“, so Madjidi.

Als Sozialarbeiterin in einer Geflüchtetenunterkunft ist sie auf ihr Auto angewiesen. Aufgrund ihrer Behinderung wurde ihr eine Kraftfahrzeughilfe von der Bundesagentur für Arbeit gewährt, was ihr ermöglicht, ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Doch im Mai 2024 tauchte ein neues Problem auf: In ihrem Wohngebiet wurden Parkverbote eingeführt, sodass sie zum nächsten Parkplatz 15 Minuten zu Fuß gehen musste. Eine große Belastung, besonders im Winter, wenn ihre Beine so steif werden, dass sie kaum noch laufen kann. „Das Parkverbot sollte für anderthalb Jahre gelten, das hätte ich nicht ausgehalten. Ein paar Wochen wären noch machbar gewesen, aber der lange Zeitraum stellte eine unüberwindbare Hürde dar“, sagt Madjidi verzweifelt.

Unverständliche Bürokratie

Die Bemühungen, eine Ausnahmegenehmigung für das Parkverbot zu erlangen, waren ebenso frustrierend. Bei der Straßenverkehrsbehörde stieß sie auf eine Mitarbeiterin, die ihr gegenüber sehr herablassend war. „Ich weinte, weil niemand meine Situation verstand“, erinnert sich Madjidi. „Die Mitarbeiterin, die speziell für Menschen mit Behinderung zuständig ist, sagte mir, dass andere Menschen mit Behinderung auch keine Sonderbehandlung bekommen. Dabei habe ich wirklich extreme Einschränkungen.“

Gerade mit ihrer Beinorthese, benötigt sie ausreichend Platz zum Ein- und Aussteigen in das Auto, da sie ihr Knie nur noch um 80 Grad beugen kann. Sie versucht daher einen Parkausweis für Menschen mit Behinderung zu bekommen, dem sogenannten blauen Parkausweis. Die Behinderten-Parkplätze bieten mehr Raum als ein herkömmlicher Parkplatz. Jedoch ist der Zugang zum blauen Parkausweis auch mit großen Hürden verbunden. Denn dafür benötigt sie das Merkzeichen aG im Schwerbehindertenausweis, welches ebenso schwer zu bekommen ist. 

Ilka Feyerabend, Sozialrechtsreferentin des VdK Berlin-Brandenburg, unterstützt Madjidi in ihrem Fall und setzt sich für die Anerkennung des Merkzeichens aG ein. Sie erklärt: „Menschen, die im Rollstuhl sitzen, haben laut Gesetz Anspruch auf das Merkzeichen aG, das steht festgeschrieben, aber Menschen mit Behinderung, die zwar noch gehen können, aber unter starken Schmerzen, haben keinen Anspruch darauf. Um den Betroffenen zu helfen, müsste hier das Gesetz geändert werden.“ 

Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, sei die Beantragung des orangefarbenen Parkausweises, so die Sozialrechtsreferentin, aber auch der sei schwer zu bekommen, da sich keine Behörde zuständig fühlt. „Die Straßenverkehrsbehörde sagt, dass das Versorgungsamt zuständig sei und umgekehrt. Auf der Website ist es eindeutig geregelt, dass als Ersatz für das Merkzeichen aG eine Gleichstellungsbescheinigung beim Versorgungsamt eingeholt werden muss. Diese wird mit den anderen notwendigen Unterlagen bei der Straßenverkehrsbehörde eingereicht. Die Ämter streiten diese Zuständigkeiten jedoch ab. Für die Betroffenen beginnt ein Spießrutenlauf.“ 

Kampf um Anerkennung

Schon zuvor führte Madjidi einen Kampf, um einen Schwerbehindertenausweis und die richtige Einschätzung des Grades ihrer Behinderung. Zunächst wurde ihr nur ein Grad der Behinderung von 30 Prozent zugesprochen, obwohl sie ärztliche Gutachten vorlegen konnte, die eindeutig ein Anrecht auf einen Schwerbehindertenausweis von 70 bis 80 Prozent belegten. „Ich habe ein Attest der Spezialklinik, das bestätigt, dass mein Zustand viel schlimmer ist, aber das LAGeSo (Anmerkung der Redaktion: Landesamt für Gesundheit und Soziales) hat das nicht anerkannt“, so Madjidi. Ein Widerspruch und ein Gutachtertermin brachten ihr schließlich 60 Prozent, doch der Antrag auf eine höhere Einstufung wurde im Jahr 2024 erneut abgelehnt. „Ich kämpfe weiter für die Anerkennung meiner Krankheit“, sagt sie.

Reformen notwendig

So hat Madjidi nicht nur mit den physischen Einschränkungen ihrer Krankheit zu kämpfen, sondern auch mit einer Bürokratiemühle, die wenig Verständnis für ihre Situation aufbringt. Mit ihrem Parkplatzproblem ist sie nicht allein: „Wir haben in unserer Sozial- und Rechtsberatung viele Fälle zum Merkzeichen aG und versuchen, die Rechtsprechung voranzubringen“, so Henrike Weber, sozialpolitische Referentin des VdK Berlin-Brandenburg. 

„Der Gesetzgeber muss sich Gedanken machen, ob die bestehenden Regelungen noch mit der UN-Behindertenrechtskonvention konform sind. Der VdK Deutschland setzt sich seit Jahren für eine Neuregelung des Merkzeichens aG ein. Auf Landesebene fordert der VdK Berlin-Brandenburg über verschiedene Gremien wie dem Landesbehindertenbeirat Brandenburg oder auch dem Berliner Sozialgipfelbündnis immer wieder, dass Mitarbeitende in Behörden und Gerichten zum Thema Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geschult werden“, erklärt sie weiter. 

Appell an die Gesellschaft

Das Parkplatzproblem konnte Madjidi mittlerweile mit Hilfe ihrer Vermieterin lösen, die ihr einen Parkplatz im Hinterhof eingerichtet hat. Aber sie möchte mit ihrem öffentlichen Aufruf eine wichtige Botschaft teilen: „Menschen mit Behinderung dürfen nicht länger von der Gesellschaft und den Behörden vergessen werden. Ich möchte, dass Menschen, wie ich gesehen und unsere Bedürfnisse ernst genommen werden“, so Madjidi. 

Wichtig ist ihr auch, dass bei Entscheidungen wie Parkverboten und anderen Maßnahmen die Belange von Menschen mit Behinderung stärker berücksichtigt werden. „Es geht nicht darum, Sonderrechte zu erhalten, sondern um das Recht auf ein Leben in Würde und mit den nötigen Hilfen.“ Zudem müsse sich der Umgang mit Menschen mit Behinderung in den Behörden ändern, diese müssen geschult werden. Ihr Wunsch: „Ich möchte so lange wie möglich arbeiten und ein selbstbestimmtes Leben führen. Doch das geht nur, wenn ich die Unterstützung bekomme, die ich brauche.“

Der VdK Berlin-Brandenburg wird sie weiterhin unterstützen und sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen einsetzen.